Prosa

Bäume, essen gehen

Susanne Rasser

 

(Erster Prosatextversuch)

 

Geschlagen. Von Wind und Wetter, vom Hagelsturm. Dürr und verbogen stand er am Anger, das schüttere Astwerk zur Seite geknickt. Jedoch, er trug sein Gebrechen mit Würde. „Der wird nie aufrecken“, sagte der Vater und strich ihm bedächtig, mit starker Hand über den dünnen Stamm.

Wir behandelten ihn wie einen lieben Freund, dessen Haltung einem nahegeht. Ihn Baum zu nennen, war gütige Übertreibung, denn das Gewächs sah zum Erbarmen aus. Tiefgeneigt, hagelgetroffen. Seine Frucht war, strenggenommen, ungenießbar. In seinem besten Jahr mag er wohl an die 15 Äpfel getragen haben. (Ja, manchmal beißt man eben in Bitteres, aber auch das lässt sich hinunterwürgen und verdauen. In den meisten Fällen kommt es eben darauf an, wie viel man sich an Erwartung gestattet.) Seine beste Zeit ging viel zu schnell vorbei. Schon im Herbst riss der Schneegeist boshaft an den Fensterläden, wütete um Haus und Hof. Unbarmherzig, unberechenbar. Das Bäumchen nahm sich einen Schutzmantel, hüllte sich in Flauschiges  – und stand still.

Nun traf ich den Vater öfter in der Stube. Dort lag er auf der Ofenbank und sang mir die Lieder vom Lenz, vom Ruapp und vom Stoff. Er sang vom Christuskind, dem Wunder der Heiligen Nacht. Während der Vater so dalag, saß ich auf seinem breiten Bauch, hörte gebannt und nahm ihm die Luft. Aber am Ende kam dann doch wieder die Geschichte des  blutverschmierten Wildschütz, der sich vom Jäger die Wunden binden lassen muss.

Am Anger stand das Bäumchen still. Endlich kam der Tag, an dem sich das Christuskind zu uns auf den Weg machte. Schon früh saßen wir Kinder ungewöhnlich schweigsam am Küchentisch und dachten voller Reue an die Missetaten und Frechheiten vergangener Zeit.  Wir übten uns in Schweigen, was besonders mir nicht gelingen konnte.

Erst gegen Mittag durften wir in die Stiefel sausen, „Bäume, essen gehen“, riefen wir noch ehe die Haustür hinter uns ins Schloss krachte. Lautstark bekundeten wir unsere Gastfreundschaft und stapften ausgelassen über die Felder. Es war Brauch die Bäume am Tag des Heiligen Abends zum Essen einzuladen.  Auf diese Art bedankte man sich für die Früchte des Jahres. Allein das Wort genügt nicht. Um unserem Dank Glaubwürdigkeit zu verleihen, musste jeder Baum berührt werden.

Während mir die Nässe schon hintertückisch in den Stiefelschaft kroch, lenkte ich meine Spur zum Anger. Verkrümmt harrte da einer in klirrender Kälte, im schweigenden Weiß. Also zog ich meine Hände aus den Fäustlingen, umschlang seinen mageren Stamm und flüsterte: „Baum, essen gehen“. Da schnellte ein Ästchen empor und schüttelte sich. Schnee wirbelte auf. Da stoben Sterne zu Boden. Eiskristalle färbten das Mittagslicht. Es tanzten Sterne und am Himmel gleißte ein Schein. Das Bäumchen wusste vom Wunder, denn es war geschlagen.

Susanne Rasser

Die vorliegende Geschichte gehört zu meinen allerersten Prosatextversuchen, sie wurde im Dezember 1993 in einer Wochenendbeilage der „Salzburger Nachrichten“ abgedruckt.

 

 

 

 

 

NICHTS

Susanne Rasser, Erzählung 

 

 

Ganz vorsichtig trennt er den Erlagschein aus dem Heft. Mein Bub. Mein einziger, geliebter Sohn. Er zählt das Ersparte, über Monate ersparte Taschengeld noch einmal nach, leise murmelnd, wie im Gebet. Schreibt sorgfältig den Betrag auf das vorgedruckte Papier, malt die Zahlen, grinst verbissen. Zähes Vergnügen, entblößtes Zahnfleisch, gefurchte Stirn.

Mein Kind ist kein Kind mehr. Er soll seine Geheimnisse haben, sie hüten. Ich will ihn nicht zornig wissen.

Einen Zwerghamster habe ich dem Kind zum 14. Geburtstag geschenkt. Das war keine Freude. Nun steht der Käfig in meinem Schlafzimmer und dieses Tier treibt mir die Ruhe aus. Hamster laufen nachts im Rad, knabbern an den Gitterstäben. Hamster nimmt mir meinen Schlaf, trampelt alle Träume tot. Macht mich wach, raubt die Lügen, diesen, meinen glatten Selbstbetrug. Hamster laufen nachts im Rad.

Die Zeit, sie vergeht nicht. Ich warte. Warte und hoffe, hoffe und vergehe. Sinke. Die Zeit, sie vergeht, vergeht viel zu schnell. Ich warte und schweige.

Das Kind schweigt, füllt die Erlagscheine aus.

Schnell ist er groß geworden der Bub, ganz unauffällig, ganz wie alle anderen auch. Hab ihn aufgezogen, alleine verbogen. Langsam werde ich kleiner. Alleinerziehende Mutter. Schnell wird er zornig, der Bub, und ich fürchte seine Wut. Immer, ja von Anfang an, Ausreden, das Entschuldigungsgestammel: Bauchweh, die ersten Zähne, Trotzalter, Schulangst, wieder eine Trotzphase, Berührungsängste, dann – und immer noch – die Pubertät. Hab mich dumm beruhigt, herausgeredet. Aber außer Haus trägt er mir die Tasche, spannt uns den Regenschirm und grüßt die Nachbarn höflichst. Äußerst zuvorkommend, eben gut und konsequent erzogen. Dann bin ich stolz auf mich. Geliebter Bub.

Alles andere wird nebensächlich, verwässert, wird nichtig. Das ist unbedacht. Ich gehe zur Arbeit, gieße Blumen, ich füttere Schweine. Ich tu es. Ich werde es nie getan haben.

Das Geheimnis wird nicht mehr gehütet. Mit einem Lachen schlug mir der Bub seine Wahrheiten um die Ohren. Nun quäle ich mich durch seinen Lesestoff, jene abgegriffenen Hefte, aus denen er sämtliche Erlagscheine getrennt hat. Warnschriften für die deutsche Jugend, für ausgewählte Arier, von wahren Kämpfern, die sich unentwegt von rechts anschleichen. Absenderlos, inkognito, wahrscheinlich nie zu fassen. Überfremdung, Kulturverfall, Kriminalität, von politischer Feigheit der Altparteien – – nein, und will und kann gar nichts verstehen. Mein Bub nicht!

Er trägt sein Haar gewellt, leger gewickelt, hellbraun gefärbt. Beweist Geschmack, auch im Detail, und trägt die Schuhe nur vom Rind. Man sieht ihm nach, er weiß sich zu bewegen. Kein Tarngewand, eben nicht wie alle anderen auch.

Mein Schritt stockt. Eis ist im Schuh. Die Beine gefrieren, erstarren, nageln punktgenau fest. Salz in den Augen, es kratzt. Kälte schneidet mir ins Gesicht, verunstaltet mich – – macht blind.

Und immer wieder die Schuldgefühle. Habe ich ihn verzogen, zu streng geformt oder war ich zu weich, nachgiebig, viel zu gleichgültig? Habe ich ihn ernst genommen, angenommen? Nachgegeben, des lieben Friedens wegen. Aufgegeben – – und es war nie Zeit. Immer die Hetze, kein Ferienziel, schlechte Aussicht. Bügelwäsche und Socken stopfen, die Ordnung halten. Gegen das Gerede. Sparen für die neue Wohnung, die größer, lichter, näher am Arbeitsplatz ist. Müde schon am Morgen, ja gerade am Morgen. Aber niemals krankgeschrieben, nie ausgefallen. Nicht arbeitslos.

Und immer die Schuldgefühle. Ihn im Hort abgeben, später im Kindergarten. Verwischte Tränen, die sind durchsichtig, beinahe unsichtbar.

Bald wurde er selbstständig. Lange war ich dann fast unbesorgt. Der Bub hat sich selber versorgt, seinen Weg gebahnt. Hat gelernt, ganz alleine, hat das Alleine sein gelernt.

Doch plötzlich seine Faust in meinem Gesicht. Schlug zu, vollkommen unerwartet, schlug mich später sogar zu Boden. Und dann einer – und zwar seiner – Meinung sein. Das war so einfach, so schwer. Ratlosigkeit krampfte einen Herzfehler in meine Brust. Unrhythmisch wurde der Takt zwischen Verzicht und Verzeihen, zwischen Verzagen und Zorn. Meine Kraft ließ nach, der Wille brach, Schmerz war schon bald ganz gewöhnlich.

Was bleibt ist dieses Gefühl der Schuld, denn ich habe versagt. Ich war nicht hart genug, nicht weich genug – – und es war nie Zeit.

Kein Regen, der die Trauer verwäscht, meine Sorge verschwemmt, eine Abkühlung schafft. Kein Regen, der einen Bogen spannt, der wachsen lässt oder Unheil schwemmt. Keine Sonne, die den Weg sich erkämpft, meine Kraft erwärmt, den Funken entfacht. Keine Sonne, die mich gesunden lässt, mich färbt oder heillos versengt. Es ist der Wind, der mich nimmt und fallen lässt.

Aber mein Sohn trinkt nicht, raucht nie, mein Sohn hat einfach Manieren. Er liest viel, begreift schnell, kann sich kurz und gewählt mitteilen. Er will weiter, höher hinaus, will weiterlernen, studieren. Der hat Ziele. Man traut ihm viel zu. In gewisser Hinsicht ist er sehr streng zu sich. Seine freie Zeit plant er ganz genau, nur für sich, penibel und nüchtern. Ja selbst beim Fernsehen bleibt er unbeirrbar. Abendnachrichten, Pressestunde, Inlands- und Auslandsreport, Belangsendungen. Keine Talkshow, keinen einzigen Spielfilm oder Krimi, niemals den Seitenblick.

Geht nicht aus der Bub, reist im Internet, stundenlang, vergisst den Hunger, Durst, wird körperlos. Vergisst sich nicht, schlägt Tennis, hält sich heil und auf der Höhe.

Im Winter schaufelt er vor unserem Mietshaus den Schnee beiseite, frühmorgens schon. Und heuer, gleich nach Schulschluss, den ersten Ferienjob. Irgendetwas. Vielleicht in der Tourismusbranche, irgendwo in den Bergen. Weit weg! Das wäre zu schön.

Tränen ätzen ein Netz in meine Augenschatten. Ich möchte zu mir kommen, mich fassen. Ich muss zu mir kommen, mich halten, festhalten.

Faust im Gesicht. Wieder schlug er gezielt, hinterließ keinen Abdruck, schlug mich stumm. Und später schützt mich nur ein Lächeln, das Lächeln vor dem bösen Blick. Gebogene Mundwinkel, Schultern gerade gekrampft, kein einziges Wort. Nein, darüber zu keinem auch nur einen Ton.

Man könnte aber doch etwas machen dagegen. Ihm den Hals umdrehen, mit bloßer Hand, schnell und überlegen. Man könnte sich einfach vergessen. Endlich Schluss machen, abtöten, kompostieren. Und wieder zur Ruhe kommen, wieder durchschlafen.

Man kann es nicht. Kein Gift, kein Hammerschlag, ihn nicht aussetzen oder einfach – mit irgendeiner Ausrede – abgeben. Nichts fertigbringen, abschließen, weil man zu weich ist.

Der frisst mir meinen Nachtschlaf weg, beißt in seine Gitterstäbe, hastet, knabbert, kriecht und wühlt. Aber auch der hat einen Namen, nur von mir lässt er sich streicheln. Manchmal stecke ich ihm einen saftigen Ast durch das Gitter, daran turnt er hinauf und hinunter, ganz versessen. Dann zernagt er das Holz zu Splittern, frisst es genüsslich auf. Zweimal in der Woche trage ich den Dreck weg, streue Sägemehl ein und baue eine Höhle aus Watte. Nüsse, Obst, Getreide, auch Joghurt. Immer frisches Wasser. Ich berühre ihn gerne. Weiches, warmes Fell, flinke Knopfaugen.

Nein, ich werde zu allem ja sagen. Mich nicht mehr erinnern, schon gar nichts ahnen.

Transport ist ein Wort, Viehwaggon ebenfalls, und so ein Lagerkommandant war auch ein Mensch. Mauthausen liegt bei Linz, Ebensee im Salzkammergut – – mehr bleibt da doch überhaupt nicht. Treblinka, Ravensbrück, Dachau: Ortsnamen. Vielleicht Ausflugsziele? Und? Nach Auschwitz haben  auch die Österreicher weitergedichtet, nur eben weniger gereimt. Das bricht den Rhythmus nicht unbedingt.

Alles doch längst vorbei. Das Gras wächst so schnell, wirklich lautlos, Holz verfault. Haare und Kinderspielzeug, Schuhe und Krücken – – wird einfach vermodern, vergehen, wird ganz einfach bald nicht mehr sein. Begriffe versagen, die Orte versinken. Jetzt reizen andere Wörter.

Ja, ich werde nein sagen. Weil diese Zeit nicht vergeht. Und ich werde mich erinnern, mir die Ahnung erlauben. Auch wenn die Dinge vermodern, das Kreuz mit den Fangbeinen bleibt. Man sprüht es auf, klebt es an, man sticht es sich gar in die Haut. Auch das Heil ist geblieben, das Schreien, die Schießübungen, der Stechschritt.

Aber einmal ganz alleine sein. Nicht nacharbeiten, aufputzen, nichts besorgen  – – und keinem etwas nachtragen. Den Bus nicht mehr erreichen müssen, kaltes Abendbrot, die Schmutzwäsche liegen lassen. Schlichtweg unerreichbar, ziellos verreist, nicht mehr da.

Wenn ich eine Ausbildung gemacht hätte.

Rotes Segeltuch, salziges Wasser, Wein und Heringe. Oder weich fällt der Schnee, bedeckt meinen Mantelkragen, die Augenwimpern, deckt alles zu.

Wenn der Kindsvater mich geheiratet hätte.

Sand zwischen den Zehen, ein Mietwagen, Lachs in Blätterteig. Schwarze Steghose, bunter Parka, bemalte Lippen. Auf Schiern, einer Rodel, im Pferdeschlitten. Und Sturm, mächtiges Durcheinander. Gastfreundliche Umsicht, ein Frühstück im Bett.

Wenn ich je Geld gehabt hätte, einen Groschen zuviel.

Oder wenigstens Wochenendausflüge ins Blaue, Grüne, ins Licht. Mit Picknickkorb und Plaid.

Nichts. Nur ferngesehen, Radio gehört, Schund gelesen.

Erst einmal im Leben den Koffer gepackt. Mit fliegenden Händen, voller Angst, in heller Freude. Dann schnell ab in die Klinik. Frühgeburt, aber gesund. Ein prächtiger Bub.

Nun erwarte ich sie immer. Immer sprungbereit, angespannt, immer in Abwehr. Sie kamen zu mir, setzten sich an meinen Tisch, sie zogen die Mäntel nicht aus. Die kamen und erzählten Geschichten vom Bub. Man hat ihn vernommen, die Fingerballen auf ein Schmierkissen gedrückt.

Und ich weiß nichts.

Und ich weiß nicht wirklich worum es geht, aber das habe ich den Beamten nicht gesagt. Ließ meine Zigarette im Mund, nickte, wollte Kaffee aufbrühen. Nur herumrennen, mir die Anspannung aus dem Leib treten.

Nichts, das heißt: Wiederbetätigung. Nichts verstehe ich nicht. Die durchsuchten sein Zimmer, ja die ganze Wohnung. Hefte haben sie mitgenommen, Bücher, auch eine Fahne, die lag unter dem Bett meines Sohnes. Und dann den Kellerraum – – versiegelt! Vor den Augen der Nachbarn. Dort bastelt der Bub, spielt sich gelegentlich.

Herrgott, wie ich mich schäme.

Ich ließ mich gerne für dumm verkaufen – – und dachte, der Preis sei nicht hoch.

Ich habe den Hamster nie herumrennen lassen – – und dachte, so macht er weniger Dreck. An Gitterstäbe beißen, sich in Watte verkriechen, fressen, was man dir eben so gibt. Hamster laufen nachts im Rad.

 

Publiziert in

Facetten 1998 – Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz, Bibliothek der Provinz, Weitra, 1998,
in  den Literaturzeitschriften read, Wien, 1998, SALZ, Salzburg, 1998
und im Kulturmagazin Gangway, Graz, Wien, Sydney, 1999.

http://www.gangan.com/de/lit-mags.shtml

 

 

 

 

 

Sie wissen ja

Susanne Rasser, Erzählung

 

 

Eigentlich möchte ich nie ankommen. In Warteräumen Gesichter lesen, in Bussen schaukeln, im Zug eine Zigarette rauchen. Kein Gespräch suchen, kein Gegenüber, keine Stütze, – nicht ein Wort zu viel.

Langsam schleicht mein Bus durch das Tal, spuckt Menschen, Koffer und Schier. Unerwartet hoch liegt der Schnee. Gäste sind bereits unterwegs, schneeballschlachtende, bunt vermummte Fremde.

Im nächsten Ort muss ich raus. Ich werde nervös, fahrig. Die Arbeit gleich sehen, das hat man mir eingebläut. Zupacken und mithelfen, überall. Sich nicht unbeliebt machen, schnell arbeiten. Das zählt, das wird schließlich bezahlt.

Die Hand der Chefin ist feucht, glitschig. In dem auf sportlich geschminkten Gesicht große, blaugrüne Puppenaugen, klar und kalt, sauber ummalt. Augen, die festeisen.

Noch ist es ruhig in diesem großen, blitzblank geputzten Hotelbetrieb. Es ist finster. Ich bin müde. Mein Zimmer liegt im Altbautrakt. Der Raum ist unversperrt. Ein Tisch, Waschbecken, Kleiderstange, roh gezimmertes Regal. Zwei Betten.

Die Chefin hat nicht erwähnt, dass ich mein Zimmer teilen muss. Gut, man wird miteinander auskommen, vielleicht sogar sehr gut.

 

Ursula, meine Zimmergefährtin, ist Stubenmädchen. Während sie mich durch das Hotel führt um Nötiges zu erklären, fährt sie mit spitzen Fingern über Leisten und Kanten, inspiziert, kontrolliert. Sie spricht schnell, abgehackt.

Das Personal isst in der Küche. Fünfzehn Leute um einen viel zu kleinen Tisch gereiht. Ellbogen an Ellbogen. Ein Koch, Servierkräfte, der Küchenchef, auch sie sitzen hier zum ersten Mal.

Morgen beginnt die Saison. Man wird heute früh zu Bett gehen. Keiner steht auf, viele zünden sich eine neue Zigarette. Einfach dasitzen, den Schatten etwas mehr übers Gesicht ziehen, sie alle anschweigen wollen. Vollwertig, eigenwertig – und was sein wollen? Gleichwertig? Erzogen, verzogen. Angezogen und umriemt von unbekannten Gesetzen. Sich einigeln, wärmen. Mir ist kalt. Nichts verhilft zur Flucht in ein Gestern, nichts lässt mich erinnern. Kein Blick wärmt, kein Wort vertraut.

 

Ich bleibe hängen, weiß nichts zu sagen, habe nichts zu sagen.

Und dass mir Peter sein Frühstück ja aufisst! Eilig verlässt meine Chefin die Privatwohnung. Ich höre sie stöckelbeschuht zum Lift klappern. Ich spüre mich aufatmen.

Nun, ich bin eingeteilt. Aufgeteilt zwischen Kinderbetreuung und Waschküche, zwischen Haushalt und Bügelkammer. Am Abend im Service mithelfen, wie ausgemacht.

Wie ausgemacht? Seit wann muss ich, kann ich, will ich servieren? Sich jetzt nicht wehren. So tun als ob, so tun als ob mein einfach vergesslich wäre. Dumm stellen, stumm stellen, zum Selbstschutz. Also, kein Gestank nach heißem Fett, welches man mit sich herumträgt, unabwaschbar von Haut und Haaren. Keinen Dienst an eine Männerschar mit weißen Hauben, zu deren Zoten man gefälligst zu lachen hat. Lachen, um jenen trügerischen Eigenraum zu wahren, in dem kein fremdes Geschwulst Boden findet, um ins Innerste zu fressen. Raum für diesen Selbstbetrug, dass man als verantwortungsbewusste und denkfähige Arbeitskraft eingestuft wird. Ich bin jederzeit kündbar, fristlos.

 

Peter, und dass er sein Frühstück ja aufisst! Nun wäre es an mir, die Gouvernante zu mimen. Fein säuberlich liegt die Hälfte der Semmel in eine Serviette gerollt, darüber kreuzen sich Buttermesser und Löffel. In den Augen des Sechsjährigen liegt keine Bitte um Erbarmen. Langsam gehe ich um den Esstisch, streichle mit flacher Hand über seinen Kopf. Haare kitzeln an meinem Handteller. Leicht verlegen lässt er sein Haupt nach hinten kippen, schnell steht er auf, nimmt seine Schultasche, den Blick zu Teppich.

Die Arbeit gleich sehen! Geschirrspüler einräumen, Frühstückstisch abräumen, Küche und Wohnzimmer aufräumen. Endlich ein Quengeln aus dem Kinderzimmer. Der kleine Lukas ist wach. Ihn aus dem Gitterbett heben, ihm gut zureden. Das Flascherl aus dem Wärmer langen und dieses Kind in meine Arme betten. Im Selbstverständnis einer Mutter, die ich nicht bin.

 

Die Falten in den Riesenrüschenbiesenblusen meiner gnädigen Frau Chef zeigen Spinnennetze, unfertig zwar, aber nicht zu übersehen. Ich gebe es ja zu, ich kann nicht bügeln. Jedoch, ich kann es nicht zugeben, weil ich es können muss.

Wie glättet man gepuffte Ärmel, die synthetischen Spitzen am Saum? Wie schlichtet man diese Fetzen in einen Tragekorb, um sie dann unbeschadet in einen Kleiderschrank stapeln zu können? Nun, ich habe keinen Grund zu grinsen. Jetzt schnell die Zähne zusammenbeißen, beide Mundwinkel ganz bewusst eine Spur nach unten ziehen. Eine Gleichgültigkeit zur Hilfe nötigen. Ursula kann das. Ich bitte Sie von ihrer mächtigen Bügelmaschine in meine Ecke, und bitte sie.

Geschickt rollt das Stubenmädchen ein Handtuch in den bauschigen Ärmel, zupft diesen penibel zurecht, glättet mein Missgeschick. Sie sprüht Leinen ein, zischt dampfend über den Stoff, ordnet unzählige Fältchen, – mit geübter Hand. Ich äußere meine Bewunderung, zum Dank, vorbeugend.

 

Nun ist jedes Zimmer belegt. Hochzufrieden steht der Chef an der Rezeption, ganz Herr des Hauses, halb Herr der Lage. Während der die übrig gebliebenen Begrüßungsschnäpse trinkt, wird in der Küche bereits aufgekocht, abgebraten, gesotten, gerührt, geflucht.

Stammgäste streichen den Chefkindern über die Wangen. Und wie groß sie geworden sind, und da sieht man wie man alt wird. Kinder, wie Schnäpse auf silbernem Tablett. Feuchter Kuss, Schokolade, Spielzeugautos, und da fühlt man, wie es kalt wird. Ein tüchtige Mutter, ein stolzer Vater. Und keine Zeit.

 

Schnell! Schnell essen mit den beiden Buben. Sie ausziehen, baden, ins Bett zwingen. Keine Fragen, keine Antwort. Kein Pardon.  Sollte der Kleine länger schreien, so wird sein Bruder im Speisesaal anrufen. Irgendwer wird dann schon nachsehen, irgendwann.

Ich eile in meine Personalkammer, um mich umzuziehen. Weiße Bluse, schwarzer Rock, Servierschürzchen. Schlafen die Kinder schon?

Ab in den Speisesaal. Ein Lächeln überstülpen. Nicht zu schnell gehen. Auftragen, zubringen, abräumen helfen. Ein Teller fällt. Rot werden, noch ungeschickter, später gleichgültig. Besteck wischen, es in die Laden schlichten. Gläser polieren, Getränke abzapfen. Bier schäumt über.

 

 

Im Bett sitzen und Ursula beim Schlafen zusehen. Ihr schmächtiger Körper liegt wie aufgebahrt. Rote Hände kreuzen sich über ihre Brust. Rote, raue, rissige Hände. Die Nägel kurz geschnitten. Unberingte, ungeschonte Putzfrauenhände. Scharfe Reinigungsmittel ätzen die Haut, machen sie hässlich, manchmal sogar schmerzhaft.

Rote, raue, rissige Hände. In Bergen von fremder Schmutzwäsche. Heißes Wasser, kaltes Wasser. Staub, Dreck, Erbrochenes aufwischen. Die frischen Leintücher straff über die Matratzen spannen, sich an den Bettleisten Schiefern einziehen. Eiternde Hände. Die tägliche Spuren täglich verwischen.

Ganz unten stehen in der Hierarchie dieses Hauses. Wovon träumt sie jetzt? Von mehr Freizeit, angemessener Entlohnung, vom Dreck?

 

Die linke Hand trägt. Die rechte Hand arbeitet.

Die Reihenfolge beim Bedienen der Gäste richtet sich nach Geschlecht, gesellschaftlicher Stellung, Alter.

Kalte Speisen auf kalten Tellern. Heiße Speisen auf heißen Tellern.

Der Besitzer eines Hotelbetriebes erlangt seine Position durch Arbeitseinsatz und entsprechende Berufserfahrung.

Gewünschte Eigenschaften von Bediensteten: Ehrlichkeit, Interesse, Loyalität. Wichtig sind aber auch gepflegtes Aussehen, höfliche Umgangsformen, unauffällige Kleidung, Bescheidenheit, verständliche Aussprache, psychische wie physische Belastbarkeit.

Loyalität heißt: die Interessen des Hauses zu schützen. Innerbetriebliche Eigenheiten dürfen nicht preisgegeben werden.

Interesse: Es ist sehr wichtig, dass die Aschenbecher während des Essens leer sind. Salate werden links, Beilagen von rechts gereicht.

 

Langsam rinnen Tränen in meine Halsbeuge. Ich habe vergessen. Dass ich ein Hirn wie ein Sieb habe, dass ich dumm und faul bin, hat die Chefin gesagt.

Unsere Arbeitgeberin eine Sklaventreiberin schimpfen, sie lächerlich machen. Im linken Moment den Trumpf aus dem Ärmel ziehen, vieles ausplaudern, ohne Scham, ohne Rücksicht. Einiges zuspitzen, grell nachzeichnen. Ohne Scham.

Ich weiß wie ihre Unterwäsche aussieht, ich ziehe die Haare aus ihren Lockenwicklern. Ich weiß, dass sie ihre Kinder kaum kennt. Und nun gebe ich preis. Zynisch, voller Spott, das eist die Tränen.

Wir schimpfen im Takt, wir pfeifen darauf, wir lachen uns frei. Die beiden verstehen, denn auch sie wissen von Demütigung, der Ungerechtigkeit, sie wissen es um zwei Jahre besser als ich. Markus und Georg arbeiten in der Küche. Kochlehrlinge: Zubringer, Abschäler, Auftischer, Nachwischer.

Alkohol lässt langsamer atmen. Ich habe vergessen, die Mistkübel zu leeren. Im Schneidersitz auf Markus Bett, die Schnapsflasche an Georg weiterreichen. Mir graut. Der Morgen graut. Georg erbricht sich.

 

In der Duschtasse sitzen, die schwarzen Schimmelflecken am Plafond anstarren.

Schwarze Flecken, die wie Nachtschatten am Himmel lauern. Einen Mond dazumalen, der steht im Hof. Drei Sterne und eine Schnuppe, drei Wünsche, die sind verflucht.

Lauwarmes Wasser über die Haut rieseln lassen. Da war irgendwo Ruhe, ein Mutterhaus.

Jetzt einfach schlafen gehen. Jetzt einschlafen und morgen gekündigt werden. Eiskaltes Wasser über die Haut peitschen.

Der Duschraum ist perfekt verdreckt. Woran sind diese Fliesen zersprungen? Wer hat den Spiegel blind geschlagen?

Wach werden! Sich beeilen, zurechtbiegen.

Sobald ich den Speisesaal betrete, schwenkt meine Stimmung um. Mein Lächeln lügt nicht mehr. Hier bin ich nicht nur Handlanger, denn der Oberkellner lässt mir Raum, eine Verantwortung. Im Hintergrund ein Lachen, Gläsergeklirr, Stimmengewirr.

Zu später Stunde lädt einer mich in die Runde. Zu später Stunde werde ich wach.

 

Bedächtig malt Peter Buchstaben in sein Schulheft. Eisern umschließt die kleine Faust den Bleistift, drückt fest auf, immer wieder. Ihm zusehen und Zeit haben. Zeit, das heißt Jännerloch. Weniger Gäste, weniger Arbeit, Ruhe, Zuwendung. Ein Loch im Jänner, ein unausgebuchtes Haus.

Der Chef liegt am Diwan, sieht zu, lässt zu, ohne Befehlston. In langen Schlucken den Kaffee trinkend, die Lederhosenbeine weit von sich gestreckt. Plötzlich umarmt mich sein Blick, streicht langsam ab und zwischen dem nächsten Öffnen der Lider ist er eingeschlafen.

Sich einnisten in diesem Jännerloch, den Körper weit dehnen. Ohne Schlafgier nachmittags im Bett, die Arme im Genick verschlungen.

 

In kurzen Abständen fahren Busse vor und mit drei Schlägen werden 140 Touristen angekarrt. Alles quillt über. Der Rubel rollt, überrollt uns und während wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht, steht jeder jedem im Weg.

Die großen Koffer in die Zimmer schleppen, aufrecht, ohne sichtbare Anstrengung. Gäste strecken mir Trinkgeld in die Schürzentasche, und ich freu‘ mich ehrlich. Hände schütteln, Namen wechseln, auskunftsergeben.

Der Kleine wurde zu den Großeltern abgeschoben. Damit ich den Zimmermädchen helfen kann. Damit ich mittags im Service zur Hand gehen kann. Da mithelfen und dort zupacken. Während er Vormittag im Chaos versinkt, servieren wir schon die Suppe.

 

Das Kleid bezahlen sie mir, gellt es durch den Speisesaal. Oje, dem Oberkellner Martin ist das passiert. Der hat Suppe verschüttet und nun kleben bleiche Nudelwürmer an einer fleischfarbenen Dralonbluse. Die Fleischfarbene schimpft sich in den Mittelpunkt und während Martin seinen hochroten Kopf in die Küche retten will, stöckelt bereits die Chefin herbei. Die schimpft ebenfalls und entschuldigt sich vieltausendmal: Sie wissen ja, das heutige Personal.

Martin steht in der Küche, sagt nichts, schaut uns nicht an. Zitternd nimmt er ein verschmiertes Glas von der Spüle, wirft es mit tobender Wucht auf den Fliesenboden. Zwei, drei, viele. Tritt dann hoch erhobenen Hauptes mit seinen blankgewichsten Schuhen in den Scherbenhaufen.

 

 

Publiziert in

Facetten 1997 – Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz, Bibliothek der Provinz, Weitra, 1997,
in Geschichten aus der Arbeitswelt, Löcker Verlag, Wien, 1997  und
(in etwas abgeänderter und gekürzter Form) in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

SO ALS OB

AUSZUG / LITERARISCHE VORLAGE ZUM FERNSEHFILM „BAUERNPRINZESSIN“

Susanne Rasser

 

 

Schneeschmelze. Weich wurde der Boden, nachgiebig. Föhnsturm und Regenguss.

Man schrieb ein neues Jahr, verschrieb sich nicht mehr, die Festtage waren längst abgespult.

Winziges, zartes, beinahe noch bräunliches Gras. Eine stärkere Sonne schob schmutzigen Schnee den Berg hinab. Das Wetter schlug um. Dann trieben Erlen aus und die Luft roch nach Erde.

Im Tal, an den Hängen, auf Almweiden wurden Zäune wiederinstandgesetzt. Das zurechtgeklobene Holz war noch gelblich, unverwittert.

Schlampig arbeitete einer, grob und lückenhaft. Der spannte wirr seinen Stacheldraht, schlug Pfosten schief oder gar nicht ein. Am Torgatter faulte die Vorschiebelatte. Abstand ohne Augenmaß, kopflose Nägel, vieles blieb einfach liegen. Bedächtiger, vorausschauend ging sein Nachbar ans Werk. Der wählte robustes Holz, sparte an keinem Ende. Länger flickte der an seinem Gatter, länger hielt es dann auch. Jener roch die Erde, den ausgeschwitzten Harz und sah die ersten Käfer laufen.

Zäune zum Einsperren und Abgrenzen, zum Anlehnen und Festhalten. Stromgeladen, stacheldrahtig oder aus schlichtem Holz.

Landluft und Frühlingssonne. Die Tage nahmen auf.

Unendlich mühsam war das Düngen der steilsten Hänge. Ein dreirädriges Gefährt am Bodenseilzug festhaken, Mist einfüllen und bergauf ziehen. Den Dung auswerfen, mit einem Rechen in die Erde arbeiten. Oder hoch zu Traktor Kot über die Wiesen streuen. Mist fördert Wachstum, Chemiedünger auch.

Palmbuschen, aufgeputzt mit Hobelspänen, buntem Papier, kleinen Salzbrezen. Kirchgang und Speisenweihe. Karfreitag, dieser höchste Fasttag, bringt zum Lohne gefärbte Eier und Schokoladehasen.

Wieder das Weihwasser, Gottes Segen, sich hinknien, die Hände ineinanderlegen. Flehen, danken, denn der Herr ist nicht gnädig. Irgendwann auch beichten gehen.

Dann aber endlich ein Kirschbaumblütenleuchten und das freche Rufen des Kuckucks.

 

Nun war der Misthaufen abgetragen. Dzevad saß auf einem kantigen Stein neben dem Stallgebäude. Er betrachtete staunend seine Handteller und benetzte sie vorsichtig mit Speichel. Große, pralle Blasen spannten die Haut. Plötzlich biss er ins eigene Fleisch, schlug seine Zähne gegen den Schmerz, spie fluchend aus. Dzevad war wütend, zerschlagen missmutig. Muskelkater, Sonnenbrand, Kot klebte an Haut und Gewand. Auf der Zunge ein Geschmack nach Fäulnis, – schien wie eingewachsen, niemals wieder hinabzuwürgen.

Das Düngen der ebeneren Flächen war Dzevad, dem aus Bosnien stammenden Landarbeiter, leichtgefallen. Mit dem Traktor Spuren über die Felder ziehen, anstreuen lassen. Doch dann die Drecksarbeit mit Mistgabel und Rechen, dem primitiven Seilzug. Unzählige, ungewohnte Bewegungen. Sich verlängern, verziehen, durchstrecken und bücken. Fluchend gegen den Gestank, die plötzliche Hitze, gegen dieses verdammte Land.

Vollkommen erschöpft sank Anna neben Dzevad ins Gras. Streckte sich aus, legte ihre Hände übers Gesicht.

Schadenfroh betrachtete Dzevad Anna. Anna die Bäuerin, Vorarbeiterin, die den Ton angab, den Lohn ausgab. Ja, nun war auch sie geschwächt, endlich gab sie Ruhe.

Kein lauf mit, halt still, fass zu, kein mach doch weiter. Bei Fuß Hund oder hol mir den Braten. Versiegter, besiegter Befehlston, ersehnte Stille. Nur noch dasitzen, sich die Wunden lecken und nie, nie mehr arbeiten wollen. Verachten, den Nächstbesten, sie, die Chefin, Antreiberin, die immer alles besser wusste, besser konnte. Die ja partout diesen elenden Bergbauernhof bewirtschaften wollte.  Nicht mehr weiterdenken, an Regen oder die Macht der Sonne, an die kommende, unausweichliche Heumahd. An einen Sommer ohne Erholung, ohne Ferien.

In Dzevad tobte der Zorn. Angewidert sah er auf Anna, sah sie noch immer am Boden liegen, das Antlitz verborgen. Seit vielen Wochen verrichtete sie harte Männerarbeit. Das wurde Dzevad in diesem Augenblick zum ersten Mal bewusst. Sein Groll, der plötzlich entflammte Hass verrauchte.

Dzevad rutschte vom Stein, ließ sich neben Anna nieder, löste ihre Hände, ließ sie nicht mehr los. Nun gab sich Anna frei, ließ sich berühren.

Langsam, bedächtig zeichnete Dzevad Annas Gesichtskonturen nach, vermischte, verwischte zwischen Lidern und Brauen, die Wangen entlang, bis zum Hals.

Lippen, weich und nachgiebig, aufgelöstes Blondhaar, geweitete Pupillen.

Später nebeneinandersitzend, Schulter an Schulter, Knie an Knie. Ein Nachvibrieren der haut, leises Beben noch. Eine Zigarette,  dünn gedreht, mit Speichel verklebt. Geteilte Luft, Tabakkrumen auf den Zungen.

Gemeinsames Atemholen, im Gleichtakt beinah. Und dann doch nur wieder das Warten auf Regenwolken, auf dass sich der Boden erweiche, das Land.

 

Sie schaute sich neugierig um, der Pichlermutter nicht in die Augen und trank schlürfend den heißen Pfefferminztee.

Zwei lange, graue Zöpfe ums Haupt geschlungen, Kronenfrisur, ein wenig schütter schon. Breiter, exakter Scheitel bis zum Nacken gezogen. Volle Wangen, mit blauen, geplatzten Äderchen. Flinke, schwarze Knopfaugen.

Schön habt ihr es hier, und so ordentlich. Nun hast du ja Zeit für die Hausarbeit.

Altfrauenstimme, zittrig, aber doch selbstbewusst, erfrischend, ging wie geschmiert. Neuste Dorfgeschichten erzählte die Besucherin. Schmückte aus, prophezeite, schränkte ein. Reden für den Pfarrer, gegen den Bürgermeister und über den Hausarzt. Später ein Lob den Enkelkindern, schöngefärbt, stolz. Und dann das angebrachte, wie ausgemachte Schweigen, eine Erinnerungsminute.

Noch Tee, noch Kuchen? Die Mutter strahlte vor Freude. Auch sie redete, erzählte nichts über sich selber. Geplauder über längst vergangene Tage, das gemeinsame Jungsein, jene bessere Zeit. Dieses Thema war gefragt, unaufdringlich, unerschütterlich, unzählige Male abgespult. Oder Erfolg und Versagen der Gleichaltrigen, Ehemaligen. Andere Schicksale, ein anderes Leben. Gerötetes Muttergesicht. Endlich Besuch, eine Abwechslung, nur für sie. Worte in ihrer alten, abgetragenen Sprache. Kein Angriff, keine einzige Frage.

 

Plötzliches Erwachen, eine Verwunderung, verschwommenes Traumbild, schon verdeckt, abgeblendet. Ein Gefühl der Beklemmung, verkrampftes Schlucken. Unruhe.

Barfuss schlich Anna durchs Haus, in die geräumige Wohnküche. Noch vor Mitternacht, noch fernsehen, sich langweilen. Überwach.

Zögernd öffnete sie dann eine Kommode, schlichtete Bücher und Zeitschriften beiseite, legte einen alten, mit Stoff überzogenem Karton auf den Tisch.

Bilder, alte und neuere, befanden sich in diesem Karton. Wegtauchen in ein Gestern, bedächtig, langsam, gedankenverloren. Lachende Gesichter, aneinandergereiht, verschwommene Konturen. Aufnahmen von Hochzeiten, einem Heimatabend, der Jahrhundertüberschwemmung. Oder die Großeltern und Tanten, ein Onkel. Klein, farblos und befremdend. Foto um Foto ließ Anna durch ihre Hände wandern. Und dann in die eigenen Augen sehen: fragender Blick, Grimassen schneidendes Kind. Im Winter auf Schlitten oder Schiern, im Stall oder in der Scheune. Zur Sommerzeit barfuss, bei Kühen und Ziegen, immer draußen, immer beim Vater. Dieses Mädchen in Lederhose, mit kurgeschnittenem Haar. Ja, ein guter Bub war sie gewesen, ungestüm, laut und niemals wehleidig. Von Puppen träumend, einem goldenen Armreif, von bunten, weitschwingenden Röcken. Ganz heimlich, voller Schuldgefühle. Das eigene Geschlecht verachtend, denn genau das war falsch an ihr, war dem Vater Enttäuschung gewesen. Kein Sohn, der den Namen weitertragen würde. Falsches Kind, einzig und leider unaustauschbar.

Lange hatte Anna um seine Wertschätzung, um seine Liebe gekämpft. Erst nach Jahren, nach der Grundschulzeit, ein goldenes Kettchen, weit schwingende Röcke und passende Schuhe. Längst vergötterte der Vater sein Mädchen. Doch Anna schrie ihn rückschrittlich, unerträglich schwachsinnig. Bittere Anschuldigungen, und einmal hatte sie ihm sie sogar die blutrot lackierten Fingernägel in den Unterarm gekrallt. Schuld zurückgeschlagen. Dann das Zusammenraufen, sich aussprechen und einander auch mal in Ruhe lassen. Keine Täuschung mehr, gegenseitiges Verstehen, diese Treue.

Fotos von der Bergtour zum Gipfelkreuz, von der Hochalm und viele Aufnahmen von den eigenen Tieren. Da die Mutter, inmitten einer Schafherde, keck und auftoupiert. Zurechtgeschnittene Vergangenheit, gefällig belichtet.

Anna schlichtete die Fotos in den Karton zurück. Drehte Musik an, lautstark, gegen die Schatten, diese plötzliche Zerrissenheit. Sich auslachen oder weinen oder beten können. Schnell auf und ab gehen, stampfenden Schrittes, sich müde tretend. So tun, als ob man nur nicht schlafen könne.

 

Hängengeblieben war er, bei Schnaps und Bier. Ja, und betrunken war er, nicht beschwipst, stockbesoffen. Unbeholfen, vollkommen gleichgültig, nur mehr schwer zu bewegen. Das hellbraune Haar wild zerrauft, hochrotes Gesicht, dazu dieses dümmliche, sinnleere Grinsen.

Anna versuchte Dzevad aufzurichten, zum Aufstehen zu bewegen.  Aber schon stand die nächste Runde am Tisch, man griff nach den Gläsern und prostete sich zu.

Sonntagsgrölen in der Wirtshausküche. Langeweile, Nachsaison. Der Geruch nach kaltem Fett, abgestandenem Dunst und Alkohol.

Spöttische Gesichter, offener Hohn, diese Selbstzufriedenheit. Dzevad lachte mit, war eingeladen, an den Stammtisch gebeten. Er verstand den Spaß nicht, nicht den Ernst ihrer Gehässigkeit. Oft schenkten sie ihm nach, immer öfter, immer mehr. Ließen ihn hochleben und zwinkerten sich zu. Dem Tschuschen einen Rausch anhängen, ihn zuschütten bis er nicht mehr stehen kann, bis er kotzt. Das war ein Spaß.

Anna stellte sich abseits, an den Schank zwischen Küche und Restaurant, bestellte Kaffee. Heuchelte Gleichgültigkeit indem sie sich verrenkte, die Augen himmelwärts drehte. Angestrengt betrachtete Anna Ansichtskarten, die der Wirt an einem wuchtigen, hölzernen Plafondträger aufgespießt hatte. Grüße aus Berlin, Dalfsen, Rostock, Wien. Stammgäste, die nicht vergessen werden wollten. Sie kamen immer wieder, Jahr für Jahr, jahrzehntelang. Aber auch Karten von Einheimischen. Blitzblaues Meer, Sand und Schotter, abgenutzte Hotelklötze. Italien, Mallorca, Ungarn und immer wieder Italien. Das lag nahe. Da waren wir, wir vom Sparverein, wir Bienenzüchter, Mountainbiker, Rettungsfahrer, Fußballspieler. Reisen war modern. Wegfahren, hieß wegbleiben können. Sich durchfragen, durchschlagen, verstellen. Denn diesen Ort hier nannten sie Kaff, den Bezirk die Provinz. Denn das Land war zu klein, verkannt, vielleicht einfach gar nicht der Rede wert.

Grübelnd blickte Anna auf den Fliesenboden der Wirtshausküche.

Beliebtes Land. Das mit den Schigebieten, Luftkurorten, Wanderwelten. Festgespannt von Gipfelkreuzen bis zu den engen, verbauten Talfurchen. Das war bestens erschlossen, reich beschildert, längst abgetreten und vergeben.

Andernorts, ja fast am gleichen Platz, die Hochalmen, Weidegründe, streng umzäunten Arbeitsflächen. Schwerer zu erreichen, dem Verwildern immer wieder aufs Neue entrissen. Abgeschiedene Gehöfte, Dammwälder, eine Jagdhütte. Unzugänglich und doch schutzbedürftig. Geliebtes Land.

Im Stammtischwinkel war es plötzlich sehr still geworden. Verwundert drehte sich Anna um. Dzevad war nach vorne gesunken, gleich einer ramponierten Marionette. Wertloses Spielzeug, für die Dörfler mit einem Male uninteressant. Sein Kopf lag auf der abgewetzten, schmierigen Tischplatte. Arme und Beine schienen nicht mehr zum Körper zu gehören, wirkten viel zu lang, wie ausgeleiert.

Erst als Anna nähertrat, kam wieder Leben in die Säuferrunde. Man sah sie abschätzend an, spottete, stachelte auf. Und dann versuchten sich die Männer gegenseitig zu übertrumpfen. Aber sie, die man hier eine Tschuschenhure nannte, eine, die man auf der Stelle davonjagen sollte, schien wie ausgewechselt, wie taub. Anna hörte und wunderte sich, und hörte doch nur auf das eigene Atemholen, langsames, vorsichtiges Luft schöpfen. Unerreichbar war sie nun, schrie nicht zurück, verteidigte Dragan nicht mehr. Sah keinen und sah sie alle an, ruhig, in sich versunken, hörte nur auf ihr eigenes Atemholen.

Der Wirt, der bis jetzt schweigend zugesehen hatte, nahm die halbleeren Gläser vom Tisch, nahm Aschenbecher, Untersetzer, leere Zigarettenschachteln und löschte das große Deckenlicht. Mit einem vor Nässe triefenden Lappen, wischte er dann von Ellbogen zu Ellbogen, gegen Bauernjanker und Lederjacken. Sperrstunde.

 

Hier ruhte er in Frieden. Einen neuen Weihwasserkessel hatte die Mutter schmieden lassen, Stiefmütterchen gepflanzt, in einer großen, schweren Vase leuchteten Schnittblumen. Erst wenn die Erde nachgesunken, eingeebnet, gleichgemacht, würde man den Grabstein wieder richten lassen. Noch stand das Holzkreuz mit dem eingebrannten Namen, der Trauerschleife und dem aufgenagelten Sterbebildchen. Da lachte der Vater, sein flachsblonder Schnurrbart bog sich an den Spitzen noch oben. Da lachte er, der nun in einer Kiste auf der Kiste seines Bruders lag. Darunter die Eltern, versunken, versickert, körperlos.

Schneckengift hatte die Mutter auf den Erdhügel gestreut. Sie zupfte Unkraut, goss die Blumen, zündete zwei Lichter gegen die Macht ihrer Trauer.

Touristen spazierten auf den schmalen Kiesweg von Grube zu Grube, besahen sich Fotos, lachten manchmal laut auf. Sie lasen die Sprüche, Wünsche, letzten Grüße, rechneten nach und vor, trieben sich weiter. Weiter zur Kirche. Die hielt man für gotisch, meistens zumindest.

Auch die Einheimischen trafen sich am Friedhof. Pflanzten um, brachten Blumen, schleppten die Gießkannen. Man unterhielt sich, die Frauen fragten nach, gehörten hier zueinander.

 

Der Tag begann noch in der Nacht. Tau auf den Feldern. Die Arbeit ging man hastig an, ein Wettlaufen gegen die Hitze und Zeitnot, gegen das Verzagen.

Auch Dzevad und Anna waren sehr bald ausgerückt. Einfach war der Schnitt auf den ebeneren Feldern gewesen. Abmähen, wenden, einfahren. Mithilfe eines Traktors, einer Umkehrmaschine, mit dem Ladewagen.

Der Steilanger, das Bergfeld, ganz nahe an der Waldgrenze, hier war eine andere Welt. Schwungvoll ließ Anna ihre Sense ins taunasse Gras sausen. Maulwurfshügel und Steine, die hielten auf, stumpften das Schneideblatt. Hitze, Durst und das Hoffen auf ein Anhalten der Hitze.

Anderntags wieder bergauf gehen, das Heu wenden, es musste vollkommen trocknen, musste stauben. Das Wenige dann mit dem Rechen einsammeln, gleich einem Murmeltier, dass sich auf einen langen Winter vorzubereiten hat, auf das Überleben. So tun, als ob alles davon abhängen würde.

Schweißperlen, sie kitzelten. Staub in Nase und Mund, schwere, brennende Beine.

Und weiter die Stallarbeit. Ausmisten, einstreuen, die Milch zur Sammelstelle bringen. Tag für Tag. Morgens und abends zur Heimalm fahren, auch dort melken, das Vieh versorgen. Schlachten lassen und dann im Herbst wieder neues Leben zeugen lassen. Nach Marktnischen, einem zweiten Standbein trachten, vorausdenken.

Tot die Zicklein, tot der Stier, wurden abgeschlachtet und zum Ausbluten aufgehängt. Verwurstet, gebraten, längst verzehrt.

Zwischendurch mähen, umkehren, angarben, das Futter treten. Durchhalten. Sich viele Freunde wünschen, tatkräftige Verwandte, die zupacken könnten, mithelfen. Sich verwünschen, krankschinden. Weiterarbeiten, immer weiter.

 

Dzevad brachte sich um den Schlaf. Gerade jetzt, nach diesen langen, schweren Arbeitstagen saß er oft bis nach Mitternacht in der Schnitzhütte.

Die Zeichenblöcke hatte der junge Bosnier zum Festhalten benutzt. Fürs Herzeigen und Aufhängen waren diese Bilder nicht gedacht. Da war der Berg, Hausberg des Pichlerhofs, steil und gezackt. Darunter der Ort, in die Talritze geklemmt, mit zerstörtem Mauerwerk, zerschlagenen Fensterscheiben. Nirgendwo Menschen, nur Hunde, streunende, ausgehungerte Straßenköter. Auch auf den weiteren Blättern Hunde, die sich belauerten, umkreisten, mit entblößten Zähnen.

Diese Bleibe und die eigene Heimat, das ließ Dzevad ineinanderfließen. Verwischte, zerrüttete, glich nichts aus.

Auf einem anderen Blatt die örtliche Bäckerei, beleuchtetes Schaufenster, rosarote Fassade. Hinter dem Fensterglas ein alter Telefonapparat mit durchgeschnittenem Kabel. Oder verwüstete Hütten neben den Schiliften, abgesprengte Wanderwege, aufgerissene Grasmatten unter blühenden Bäumen. Krieg im Frieden. Feuer das Licht am Weihnachtsbaum, geköpfte Blumen, schwarzbrauner Gebirgsbach. Zerstörtes Dorf, verwandelt und menschenleer. Da war nichts gefällig, harmonisch, da war ein Flüchtender, ein Vertriebener am Werk.

Im Gegensatz zu Dzevads Zeichnungen und Malereien war seine Schnitzarbeit ein Suchen nach Schönheit, nach Ebenmäßigkeit und Anmut. Ausdauernd hatte er an einer Figur gewerkt. Harlekin in Pluderhose, einem lose fallenden Oberteil und runder Kappe. Wunderbarer Clown, mädchenhafter Mann, eine verkleidete, rätstelbehaftete Frau.

Doch an diesem späten Sommerabend holte Dzevad noch einmal jene Skulptur aus der geräumigen Holztruhe, die einst Annas Vater gehört hatte. Da waren noch einige Kerben zu setzen.  Sorgenfalte, dünnere Lippen, ein spitzeres Kinn. Dzevad hielt das Schnitzmesser in seiner Faust, dachte nicht mehr nach, schlug zu. Schlug zu tief, viel zu grob, zerstörte. Den Mund schnitt er gerade, höhlte ihn aus, höhlte ein tiefes Loch ins Gesicht. Wie besessen arbeitete er plötzlich. Dzevad verwüstete das Antlitz dieses Mannes, dieser Harlekinfrau, stach eine breite Wunde an eine wohlgeformte Nase. Nur die Augen ließ er heil, ließ sie sehen. Nur den Blick nicht zerstören.

Nun war nichts mehr vollendet, nun war abgeschlossen, aufs Neue begonnen. Denn niemals ging Dzevads Gedenken zu Ende, nichts ließ sich abstreifen, auflösen, verdrängen.  Die Schönheit bezweifeln, zerstören, sich verletzen. Keine Menschen formen. Zu viele Gesichter im Kopf, zu viele, die man nie mehr wiedersehen wird.

Keine Vergangenheit, keine Bedrängnis? Nichts würde nun zum Herzeigen taugen, so wie einst im Winter jene Hirtenfigur, die er Anna geschenkt hatte.

Hässlich und unverständlich musste auch das Geformte werden. Der Anpassung, der Einbürgerung entgehen. Hier war er einzig ein Knecht, so hatte man das früher genannt, ein Dienstbote eben. Und ein Gestern, das wollte Dzevad nicht einmal mehr für sich selber besitzen.

 

Bitter bereute Anna den Streit, die Kränkung, die sie der Mutter nicht schuldig geblieben war. Sie empfand Reue, wollte ein Verzeihen, sich ausreden. Aufheulen. Doch die Mutter ging ihr aus dem Weg, streifte ab und verlangte nichts mehr. Wollte nicht mehr von Anna ins Dorf, zum Friedhof gefahren werden, selbst zum Einkaufen kam sie nie mehr mit. Nun hatte sich die Mutter festgenagelt, vollkommen isoliert, abgesondert. Ein Fußmarsch ins Dorf, das wäre für diese kränkliche Frau auch viel zu kräfteraubend gewesen.

Zwischen Feldern und Stall, zwischen dem Dorf und der Heimalm zerriss sich Anna. Brach in Stücke, verlor. Arbeiten, nur arbeiten und weiterschinden.

Jene Zuversicht, die so selbstverständlich, ja wie angeboren schien, diese Zuversicht wurde brüchig, krümelte aus.

Das eigene Wort bog sich im Krampf. das Schweigen war laut und geschäftig.

Diese Mutter, die sich abwandte, dem Gekreuzigten zu, die man leise beten hörte. Um eine glückselige Sterbestunde beten hörte. Unberührbar, in sich gewunden vor Angst.

 

Barfuss über den grasweichen Almboden gehen. Aufleben, wieder fester auftreten. Die Wärme spüren, die Erde, jeden Stein.

Alleine sein, endlich, und Zeit haben. Feierabend. Noch früher Abend. Das gab es noch, das blieb nie so.

 

Nach der abendlichen Stallarbeit, nach dem versorgen des Almviehs, machten sich Anna und Dzevad auf die Suche nach den Ziegen. Irgendjemand hatte das Torgatter offenstehen lassen. Vielleicht waren es Anna oder Dzevad gewesen, vielleicht ein Wanderer, Tourist, ohne böse Absicht.

Zur Schattseite lenkte Dzevad seine Schritte, durchkämmte zuerst den Mischwald, ging die Forstwege entlang, verlief sich, fluchte. Im Gehen hob er immer wieder das Fernglas, suchte nach den Ziegen, nach weißen und braunen Flecken. Hielt inne, lauschte angestrengt, ging weiter bergauf, wieder bergab, rundherum. Im Dunkel stolperte Dzevad zum Bergbauernhof zurück, musste aufgeben. Sternenlose Nacht, umwolkter Mond. Entmutigt ließ sich Dzevad vor dem Haus ins Gras fallen, wollte auf Anna warten, wachen, – und schlief sofort ein.

Auch Anna war bergwärts gewandert. Zerfurchte, vom Schmelzwasser gezeichnete Steilhänge, zerbrechliches Geröll. Ödland. Bis zum Gipfelkreuz hatte Anna ihre Erschöpfung getragen, trittsicher, wie im Traum. Vergessen der Zwang, der Wert der davongelaufenen Ziegen, des Nutzviehs, vergessen der Sinn dieser Pflichtübung.

Sich einfach weiterbewegen, benommen, aber doch erstaunt, geborgen, verborgen. In Sicherheit vor dem Beobachterblick.

In einer Felsmulde, einem steinernen Bett, verbrachte Anna die Nacht. Hellwach war sie nach kurzem Schlaf, sah ins Dunkel, fand sich ein. Fragen stellen, sich Fallen stellen. Andere Worte finden, andere Begriffe, vieles umdeuten und neu auslegen. Grenzen abgehen, überschreiten. Das Weite suchen? Neugierig auf Fremdes, Ungewohntes, auf eine Welt hinter diesen Bergen aus Stein.

Mit einem Male vieles benennen, aber nichts mehr beweisen wollen. Das Weite suchen.

Ehe der Morgen zu dämmern begann, stieg Anna talwärts. Schlich sich vorsichtig am schlafenden Dzevad vorbei, kramte in der Stube nach einigen alten Fotos aus der Kartonschachtel. Unbemerkt gelangte sie in ihr Zimmer. Weinen, sich auslachen oder wundern können.

Papiere, Geld, der Filzhut des Vaters. Sie nahm Kleider aus dem Schrank, stopfte das Notwendige in eine Reisetasche.

Dann fuhr Anna weg, in den beginnenden Morgen, talauswärts. So, als ob es für immer wäre.

Die vorliegende Erzählung umfasst 76 Seiten und war Vorlage für den TV-Film „Bauernprinzessin“.

© Susanne Rasser, 1996